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Biographische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er Jahren

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Dr. Carsta Langner: »Dünne Haut. Oder: Ohne Frauen ist kein Staat zu machen«

Standbild aus dem Film »Winter Adé« von Helke Misselwitz, DEFA 1988, Hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung
Standbild aus dem Film »Winter Adé« von Helke Misselwitz, DEFA 1988, Hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung

Für heute vor 30 Jahren, am 22. April 1990, rief der noch junge ›Unabhängige Frauenverband‹ zu einer Demonstration vor der Volkskammer in Berlin-Ost auf. Es drohte die bundesweite Einführung des §218 StGB, der in der DDR 1972 abgeschafft worden war. Aus diesem Anlass verfasste Carsta Langner einen Essay zu feministischen Erfahrungen des ›langen Umbruchs‹.

Eine Audioversion dieses Essays finden Sie bei Radio Corax.

Dr. Carsta Langner: »Dünne Haut. Oder: Ohne Frauen ist kein Staat zu machen«

Wie soll sie das alles nur schaffen: Drei Kinder, alleinerziehend und nun arbeitet sie auch noch von zu Hause: »Zu unserer Wohnung gehören drei Zimmer, Küche und Bad mit Toilette. In dem Wohnzimmer, das mir zugleich als Schlafraum dient, wird auch ferngesehen, die gemeinsame Freizeit verbracht. Hier werde ich nun auch meinen Arbeitsplatz einrichten.«

Elke kann kaum schlafen; sie plagen Existenzängste. Vieles von dem, was sie schreibt, scheint so bedrückend aktuell. Dabei stammen ihre Erinnerungen aus der Zeit Mitte der 1980er Jahre: 1987 wurden sie von Erika Rüdenauer in dem Buch Dünne Haut mit drei anderen Tagebuchaufzeichnungen von Frauen aus der DDR herausgegeben. Rüdenauer hat die Frauen, wie sie selbst schreibt, auf sehr unterschiedliche Weise kennengelernt: Durch Bekannte, auf Veranstaltungen oder durch einen Zirkel schreibender Arbeiter. Ob die Tagebücher für die Publikation bearbeitet wurden, ist ungewiss. Aber sie erscheinen kurz hintereinander in zwei weiteren Auflagen und lassen so auf einen Zeitgeist schließen, in dem kritische Gesellschaftsbeobachtungen boomen. Ein Jahr nach Dünne Haut erscheint auch Landolf Scherzers Der Erste – jene politische Innenansicht über den SED-Parteiapparat, die auch in der Bundesrepublik stark rezipiert wird; und Helke Misselwitz Dokumentation Winter Adé, in der Frauen in ihren verschiedenen Lebenslagen portraitiert werden, wird auf der Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche uraufgeführt. Noch immer entscheidet zwar die SED auf den verschiedenen politischen Ebenen, welche gesellschaftlichen Probleme in der Öffentlichkeit dargestellt werden dürfen und welche nicht, aber die Möglichkeiten weiten sich zunehmend: Während der Fotografin Helga Paris eine Ausstellung über die verfallenen Häuser in Halle 1985 nicht genehmigt wird, erhält der Regisseur Roland Steiner die Rechercheerlaubnis für den Film Unsere Kinder über jugendliche Subkulturen, in dem 1989 neben Punks und Gruftis vor allem junge Neonazis zu sehen sein werden. Diese Werke stellen heute einen Teil jener Quellen dar, mit denen die Umbruchserfahrungen von »’89« in einen langen historischen Kontext verortet werden können.

Das Kulminationsjahr 1989 war in Ostdeutschland mit sehr diversen – sogar konkurrierenden – gesellschaftlichen Hoffnungen und Erwartungen verbunden: Die Einheit der Nation, deren übersteigerte Form des Nationalismus Neonazis mit Gewalt offen auf der Straße propagierten, gehörte ebenso dazu wie die Demokratisierung des Sozialismus. Seit Beginn der 1980er Jahre wurde in der DDR in fragmentierten Teilöffentlichkeiten Gesellschaftskritik artikuliert, die sich zunehmend auch organisierte. Ende der 1980er Jahre existierten dabei zahlreiche – wenn auch kleine oder lokal agierende – Interessengruppen, die versuchten, unabhängig von der SED ihre Forderungen in politische Entscheidungsprozesse einzubringen. Dazu zählten auch feministische Positionen. Aus informellen Frauengruppen, die sich in den 1980er Jahren in der DDR trotz staatlicher Repressionen gegründet hatten, ging Ende 1989 der Unabhängige Frauenverband hervor.

Am 3. Dezember trafen sich in der Berliner Volksbühne mehr als eintausend Frauen. Gefolgt waren sie unter anderem einem Aufruf von Ina Merkel unter dem Titel »Ohne Frauen ist kein Staat zu machen«. Es sind Dokumente wie dieses, das eine historische – auf zeitgenössischen Quellen beruhende – Rekonstruktion politischer Forderungen jener Zeit ermöglicht, und die die Erfahrungen des Umbruchs nach 1989 erst verständlich machen. Im Aufruf von Merkel, der während des Treffens im Dezember ’89 noch einmal von der Schauspielerin Walfriede Schmitt unter großem Applaus vorgelesen wurde, finden sich Forderungen nach einem »modernen Sozialismus auf deutschem Boden in einem gemeinsamen europäischen Haus« ebenso wie »eine ökologische Reorganisation der Wirtschaft« und »eine mulitkulturelle Gesellschaft«. Forderungen, die dreißig Jahre später zum Teil fast beklemmend aktuell erscheinen. Ein Spruchband mit der Aufschrift »Wer sich nicht wehrt, kommt an den Herd«, der über die Bühne gezogen war, lässt einerseits die Kritik an patriarchaler Arbeitsteilung im Realsozialismus erkennen, andererseits die Befürchtung neuer Rückschritte infolge erstarkender konservativer Kräfte. Rückblickend nahmen die Protagonistinnen sehr enge Zeitfenster wahr, die sich rasch wieder schließen konnten. Die staatliche Vereinigung mit der Bundesrepublik unter einer christdemokratischen Regierung stellte am 3. Dezember 1989 eine unter zahlreichen Möglichkeiten der weiteren historischen Entwicklung dar: Das Zehn-Punkte-Programm, mit dem Helmut Kohl eine Einheit Deutschlands als Option öffentlich propagierte, war erst fünf Tage zuvor im Bundestag verlesen worden. Einmal erkämpfte Freiräume und Rechte drohten nun wieder abgeschafft zu werden. Aus der historischen Rückschau betrachtet, kämpften die feministischen Aktivistinnen tatsächlich eher gegen Windmühlen. Für den 22. April 1990 – nur vier Monate nach dem großen Treffen der DDR-Frauengruppen in Berlin 1989 – rief der noch junge Unabhängige Frauenverband gemeinsam mit dem Neuen Forum, Teilen der SPD, der Grünen Partei, der Initiative für Frieden und Menschenrechte zu einer Demonstration vor der Volkskammer auf: Es drohte die bundesweite Einführung des Paragraphen 218, der in der DDR 1972 mit vierzehn Gegenstimmen der CDU abgeschafft worden war. Nun stand das Recht der Frauen, selbst entscheiden zu können, ob sie eine Schwangerschaft fortführen wollten oder nicht, wieder zur Disposition. Die Proteste sollten schließlich Teil der verflochtenen Geschichte zwischen DDR und Bundesrepublik werden: Im Sommer 1990 demonstrierten auch in Bonn 10.000 Menschen gegen den §218. Es dauerte jedoch noch fünf Jahre, bis das noch heute geltende Abtreibungsstrafrecht durchgesetzt werden sollte, durch das der Abbruch einer Schwangerschaft zwar straffrei, aber dennoch rechtswidrig wurde.

Es sind jene Erfahrungen, auf die Teile des heutigen Unmuts damaliger politischer Protagonisten und Protagonistinnen zurückgeführt werden können. So trugen auch die Aktivistinnen der DDR-Frauenbewegung im Herbst 1989 ihre Kritik an der SED-Regierung auf die Straße und fanden sich einige Jahre später unter anderen restriktiveren politischen Umständen – wie dem §218 – wieder. Anhand historischer Quellen, wie jenem Aufruf von Ina Merkel oder den zahlreichen Stellungnahmen frauenpolitischer Gruppen, lässt sich eine Erfahrungsgeschichte des langen Umbruchs »’89« gut rekonstruieren. Doch was ist mit jener ›schweigenden Mehrheit‹, die nicht politisch aktiv war? Worin lag ihre Kritik und was waren ihren Erwartungen? Sie hinterließen nur verstreut Quellen, die Aufschluss über ihre Erfahrungsgeschichte geben können und die es in eine Geschichte des Umbruchs zu integrieren gilt.
Elke – jene Frau aus Rüdenauers Buch Dünne Haut – versucht in den wenigen Augenblicken, die ihr überhaupt zu geistiger Reflexion bleiben, ein Tagebuch anzufertigen. 1987 erfahren die Leser und Leserinnen, wie sie zwischen optimistischem Aktivismus und Überforderung aufgrund ihrer Lebensumstände pendelt. Sie hat sich als Schneiderin selbstständig gemacht, und da ihr – aufgrund des Wohnungsmangels – keine Gewerberäume zur Verfügung stehen, arbeitet sie von zu Hause. Ihre Nähmaschinen hat sie sich nur durch einen Kredit kaufen können: »Das Geld wird knapp. Es reicht zwar für Essen und Trinken, aber es sind auch Schuhe und Strümpfe nötig. Die Mädchen wachsen und wachsen und essen und essen. Es hat den ganzen Tag geregnet, an solchen Tagen kommen die Kunden nicht, die fertiggestellten Kleider abzuholen. An einem solchen Tag kann mir bange werden.« Daher muss sie auch nachts arbeiten, während ihre Kinder im Zimmer nebenan unter den Geräuschen der Maschinen kaum schlafen können. Die familiäre Stimmung ist häufig angespannt. Die alleinige Sorge um drei Kinder, die zehn-, oft zwölftstündige Arbeit zehrt an ihr: »Koche ich mir einen Kaffee, zahlt mir mein Magen das heim, koche ich keinen, schlafe ich gleich wieder ein. Ein Teufelskreis. Ich habe mich für Kaffee entschieden.«

Zum Weiterlesen:
Bock, Jessica (2019): Frauenbewegung in Ost und West – 30 Jahre (Un-)Einigkeit? In: Ira Spieker (Hg.): Umbrüche. Erfahrungen gesellschaftlichen Wandels nach 1989. Dresden: Sandstein Verlag (Spurensuche, Band 8), S. 36–45.

Gieseke, Jens (2015): Auf der Suche nach der schweigenden Mehrheit Ost. Die geheimen Infratest-Stellvertreterbefragungen und die DDR-Gesellschaft 1968–1989. In: Zeithistorische Forschungen (12), S. 66–97. Online verfügbar unter (https://zeithistorische-forschungen.de/1-2015/id%3D5182)

Rüdenauer, Erika (1987): Dünne Haut. Tagebücher von Frauen. Halle, Leipzig: Mitteldeutscher Verlag.

Schäfer, Eva (Hg.) (2011): Frauenaufbruch ’89. Was wir wollten – was wir wurden. Berlin: Dietz (Manuskripte / RLS, Rosa-Luxemburg-Stiftung, 92).

Zum Schauen:
Misselwitz, Helke (1988): Winter adé

Veröffentlicht am: 22. April 2020, 09:00 Uhr