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Das Corona-Virus sorgt dafür, dass das öffentliche Leben nahezu zum Erliegen gekommen ist. Auch unser Forschungsverbund ist davon betroffen. Veranstaltungen und Treffen mussten abgesagt oder verschoben werden, Bibliotheken, Universitäten und Büros sind geschlossen. Dennoch geht die Arbeit, wenn auch eingeschränkt, weiter. In diesen Tagen möchten wir die Gelegenheit nutzen, Ihnen einen tieferen Einblick in die Arbeit unserer Teilprojekte zu geben.
Den vierten Beitrag verfasste Dr. Franka Maubach aus dem Teilprojekt »Der große Umbruch. Zur Erfahrungsgeschichte der Transformation in Ostdeutschland (1970-2010)«. In ihrem Artikel reflektiert sie Bilder und Klischees wie das der sogenannten »Meckerossis« und dem scheinbaren Gegensatz dieser zu den »Bürgerrechtlern« kritisch vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Realität in der späten DDR und der Transformationszeit.
Dr. Franka Maubach: »Die Frau am Fenster oder: Wie die Forderung nach einem guten Leben am Ende der DDR politisch wurde«
Plötzlich steht die Frau am Fenster, hinter ihr weht eine weiße Gardine. Ihr kleiner Sohn hat sie gerufen, drei, höchstens vier Jahre alt. Er kann kaum über die Brüstung gucken, nur Nase, Augen und verwuscheltes Haar sind zu erkennen. Dann sieht die Frau in Kittelschürze, was der Junge gesehen, was ihn überrascht oder erschreckt hat: Zwei Männer stehen vor dem Haus, einer schwenkt eine Kamera über die grauen Fassaden dieser Straße im Leipziger Osten. Vielleicht hat der Junge gedacht, sie richte sich auf ihn oder seine Familie, vielleicht hat er geahnt oder gefühlt, dass Beobachtung gefährlich sein kann. Seine Mutter aber versteht im selben Moment, was vor sich geht – und nutzt die unerwartete Gelegenheit zur freien Meinungsäußerung: »Kannst mal das Haus fotografieren und setzt’s in die Zeitung! Wie wir leben hier, kannst’s in die Zeitung setzen!«
Die kurze Szene entstand im Sommer 1989, einen Wimpernschlag vor den großen Demonstrationen ab Oktober, gedreht nicht im Zentrum der Proteste an der Nikolaikirche, sondern abseits, an der vernachlässigten Peripherie der Leipziger Innenstadt. Bei den Männern mit Kamera handelt es sich um Aram Radomski und Siegbert Schefke, zwei Oppositionelle aus der Berliner Bürgerrechtsbewegung im Umfeld der Zionskirche. In der Umweltbibliothek hatten sie sich kennengelernt und schnell eine gemeinsame Sprache des Protests gefunden. Sie wollten den überall bröckelnden Realsozialismus dokumentieren, die kranke Umwelt, die erledigte Wirtschaft, die kaputte Gesellschaft. Kurz vor dem Zusammenbruch filmten sie die Ruinenlandschaften der Innen- und Altstädte, aufgelassene Baudenkmäler und abgestützte Balkone, braune Flüsse und marode Industrieanlagen. Im Film mit der Frau am Fenster hatten sie zeigen wollen, was all das mit den Bürgern machte: Empörung und Wut, Ironie und Sarkasmus, Resignation und Enttäuschung werden hör- und sichtbar; das volle Sortiment Frust. Im letzten Jahr der DDR entstanden zahlreiche Filme, die mithilfe des zwangsausgebürgerten Roland Jahn und des westdeutschen Journalisten Peter Wensierski in die Bundesrepublik geschmuggelt, dort zu Fernsehbeiträgen geschnitten und in der Sendung »Kontraste« ausgestrahlt wurden. Über Bande landeten sie in den Wohnzimmern der DDR. Vielleicht traf sich die Frau im Fernsehen wieder. Denn mit ihrem kurzen Ruf der Empörung hatte sie zugleich ihr Einverständnis zur Benutzung der Bilder gegeben: »Wie wir leben hier, kannst’s in die Zeitung setzen!«
Später bekannt geworden sind vor allem die verbotenen Aufnahmen von der großen Demonstration am 9. Oktober. Vom Turm der Reformierten Kirche gedreht (Radomski und Schefke waren auch junge Abenteurer, 26 und 30 Jahre alt), sieht man eine riesige Menschenmenge, im Zoom auch Kerzen und Plakate. Sonst erkennt man nur Schemen, aber keine Gesichter, aus den gemeinsamen Rufen lösen sich keine einzelnen Stimmen. Diese Bilder sind ikonisch, Spiegelbilder, die sich bei jeder Ausstrahlung selbst zitieren. Jenseits ihres konkreten filmgeschichtlichen und lebensweltlichen Kontexts sind sie als Versatzstücken in die große Erzählung von der »Friedlichen Revolution« eingegangen. Andere Filmaufnahmen von Radomski und Schefke sind weniger übernutzt, aus ihrer wiederholten Betrachtung lässt sich Neues lernen. Worauf also verweist uns das Bild von der Frau am Fenster?
Vor allem hält es einen Sekundenmoment kollaborativer Widerständigkeit fest, einen Akt gemeinsamen Protests von gemeiner Bürgerin und jungen Oppositionellen. Nach dem Mauerfall und bis heute werden Bevölkerung und Opposition vor allem als zwei Gruppen mit unterschiedlichen Zielen wahrgenommen. Aus der breiten Bevölkerung wurden »Meckerossis«, denen es vermeintlich nur um Konsum ging und nicht um Politik, geschweige denn um Demokratie. Und die Opposition, realiter eine sehr heterogene Bewegung, wurde zur »Bürgerrechtsbewegung«, die sich durch ihre politische Systemkritik auszeichnete. Das oberflächliche Meckern über die Zustände und die fundierte Kritik am politischen System werden als zwei grundverschiedene Reaktionsweisen auf die sich zuspitzende Krise in der späten DDR wahrgenommen. Auch im letzten Herbst, als die Ereignisse sich zum dreißigsten Mal jährten, war dieses Bild von einer Bevölkerung wieder präsent, die lethargisch und unpolitisch gewesen sei, sich in die Nischen ihres Privatlebens zurückgezogen oder hinter der Gardine versteckt habe.
Mit Blick auf die Frau am Fenster – und viele andere Quellen des Unmuts – melden sich Zweifel und stellen sich andere Fragen: War die Empörung über das schlechte und die Forderung nach einem guten Leben nicht auch politisch? Inwiefern zielte sie darauf, Missstände offenzulegen, also Öffentlichkeit herzustellen? Verweist der vermeintliche Gegensatz zwischen schlichtem Meckern und politischem Protest nicht auch auf ein immer noch erschreckend virulentes Vorurteil nicht nur der politischen, sondern auch der intellektuellen Eliten über »das Volk«? Und wie sähe eine andere Sicht der Dinge aus?
Zunächst macht der provokante Ruf der Frau am Fenster nur besonders deutlich, was zeitgenössisch Alltagsgespräch und Alltagsbeschäftigung war: die Kritik an den Zuständen. Weil sie öffentlich nicht – oder nur punktuell und kodiert – geäußert werden durfte, suchte sie sich verschiedene Wege subkutaner oder halböffentlicher Artikulation. Der Witz zum Beispiel war ein bevorzugtes Terrain zur Ableitung lang aufgestauter Wut, nach dem Motto: »Geht ein Mann im Kaufhaus in die falsche Abteilung. Er fragt: ›Haben Sie denn hier keine Socken?‹ Die Verkäuferin schüttelt den Kopf und deutet nach oben: ›Nee, keine Socken haben wir im dritten Stock. Hier haben wir keine Schuhe.‹« Auch schrieb durchschnittlich jeder DDR-Bürger und jede DDR-Bürgerin in der Endkrise der DDR einen Beschwerdebrief pro Jahr: an das DDR-Fernsehen, das Missstände thematisieren sollte, aber vor allem an verschiedene Abteilungen der Stadträte oder auch, wenn alles nichts half, an den Oberbürgermeister oder gleich an den Staatsratsvorsitzenden: an Erich Honecker persönlich. Zu den Eingaben gibt es zahlreiche Forschungen. Allerdings hat die schiere Masse dieser Empörung in Serie dazu geführt, dass eine inhaltlich tiefergehende Beschwerdeanalyse oft unmöglich ist – auch weil jenseits der einzelnen Schreiben nur wenig Kontext zu ermitteln ist. Darum dominieren Briefeditionen wie die bekannte von Siegfried Suckut oder quantitative Auswertungen, die oft viele aufschlussreiche Grafiken darüber enthalten, worüber sich die Menschen besonders häufig beklagten.
Keine Frage: In Briefen, aber auch in vielen anderen Quellen wie dem Dokumentarfilm oder der Dokumentarliteratur, Reportagen und Umfragen, die zusammen betrachtet statt einzeln interpretiert werden müssen, dominiert die Versorgungskritik in einem weiten Sinne. Zu den Klagen über Misswirtschaft, Mangelversorgung und Wohnraumnot treten gegen Ende der achtziger Jahre zunehmend auch Fragen der Ausreise. Den meisten ging es tatsächlich um die Forderung nach einem guten Leben. Darin enthalten jedoch waren eminent politische Fragen: Wie muss der sozialistische Staat für seine Bürger sorgen? Wie für deren Umwelt und Umfeld, für die Natur oder alte Wohnviertel? Warum gab es diese skandalöse Kluft zwischen Plan und Umsetzung, Anspruch und Wirklichkeit, zwischen der hehren Ideologie und dem armen Alltag? Wie sollten Mann und Frau gleichberechtigt arbeiten, wenn – wie etwa Rostocker Ratsakten der Abteilung für Sozialwesen zahlreich zeigen – Kitaplätze fehlten? Wie sollte man Pläne erfüllen, wenn die Motivation für einen zugeteilten Beruf nicht ausreichte? Wie übererfüllen, wenn die technischen Anlagen heillos veraltet waren?
Von jener allumfassenden Sicherheit in der DDR, die heute in einer unsicheren Welt so mythisch beschworen wird, dass sie für viele zur historischen Wahrheit geworden ist, war jedenfalls kaum je die Rede. Stattdessen griff das Gefühl einer existenziellen Entsicherung und Enthausung um sich, dem die materielle Befriedigung von Konsumwünschen Anfang der neunziger Jahre – jene kurze Müll- und Hamsterphase, als Altes aus dem Osten Altem aus dem Westen Platz machte – im Grunde nicht abhalf. In der Forderung nach einem guten Leben brach sich eine fundamentale Sinnkrise Bahn, weil neben dem transzendentalen Erlösungsglauben auch die säkulare Fortschrittserwartung an eine definite Grenze gestoßen war. Das Grundversprechen der kommunistischen Ideologie – Fortschritt und ein besseres Leben – war nicht eingelöst worden. Ebenso wenig hatten sich die ganz konkreten Erwartungen erfüllt, die die Regierung Honecker seit Anfang der siebziger Jahre geweckt hatte, nämlich eine Art konsumsozialistisches Wohlstandsparadies zu schaffen. Der Palast der Republik, wo Eltern mit ihren Kindern Pittiplatsch-Eis aßen, war am Ende ebenso nur leuchtende Fassade wie die Gebäude der Leipziger Innenstadt, die zur Messezeit für das westliche Publikum frisch gestrichen wurden. Auch das hatten die Befragten im Interview mit Radomski und Schefke hellsichtig beschrieben. Man musste kein politischer Oppositioneller und keine Philosophin sein, um all das sehen und ausdrücken zu können. Man musste bloß darauf zeigen, was wirklich war. Das war eminent politische Kritik, weil sie dem System zu Leibe rückte und den Erwartungen, die es geweckt hatte.
Die Inflation der Kritik seit den achtziger Jahren und über die Vereinigung hinaus lässt sich nicht verstehen, wenn man das Phänomen auf das bloße Meckern über die Zustände reduziert. Die Kritik daran, dass der Staat seine Bürger nicht versorgte, verfestigte sich in Teilen der Bevölkerung zu einem fundamentalen Misstrauen gegenüber »Denen-da-Oben«. Man mag das patriarchale Staatsverständnis, das sich darin äußert, kritisieren. Getan ist es damit nicht. Denn soziale Sicherung ist die politische Voraussetzung für ein gutes Leben. Und der Ruf danach ist politischer Protest.
Zum Gucken und Weiterlesen:
Leipzig 89. Die verbotenen Demo-Bilder. Geschichte treffen (Dokumentation, 2017)
Radomski, Aram / Schefke, Siegbert: Bilder von der Montagsdemonstration am 9.10.1989 in Leipzig
Jahn, Roland (2014): Wir Angepassten. Überleben in der DDR, München.
Merkel, Ina (Hg.) (2000): Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! Briefe an das Fernsehen der DDR, erweiterte Neuausgabe, Berlin.
Mühlberg, Felix (2004): Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR, Berlin.
Schefke, Siegfried (2019): Als die Angst die Seite wechselte. Die Macht der verbotenen Bilder, Schwarzenbach.
Scherzer, Landolf (Hg.) (1990): Zeit läuft. Dokumentarliteratur vor und nach der Wende, Berlin.
Suckut, Siegfried (Hg.) (2015): Volkes Stimmen. »Ehrlich, aber deutlich«: Privatbriefe an die DDR-Regierung, München.
Wensierski, Peter (2017): Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution. Wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte, München.
Veröffentlicht am: 09. April 2020, 12:00 Uhr