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‹ zurück zur Einblicke-ListeMarian Herzog und apl. Prof. Dr. Alexander Thumfart, »Von heißen Kartoffeln und einem Panoptikum. Die Logiken von Überwachung und Ungewissheit«
Der folgende Essay von Marian Herzog und apl. Prof. Dr. Alexander Thumfart geht unter Rückgriff auf das von Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert entwickelte Modell des »Panoptikum« der Frage nach der Wirkmächtigkeit vermuteter und tatsächlicher staatlicher und gesellschaftlicher Überwachung nach. Ausgehend vom Beispiel eines DDR-Reisekaders in Brasilien ordnen sie das MfS als Überwachungsapparat im Sinne des »Panoptismus« ein und stellen abschließend einige grundsätzliche Überlegungen auch zur heutigen Zeit an.
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Marian Herzog & apl. Prof. Dr. Alexander Thumfart: »Von heißen Kartoffeln und einem Panoptikum: Die Logiken von Überwachung und Ungewissheit«
I: Bericht eines Zeitzeugen
Im Rahmen des ersten Interviews für das Teilprojekt »Trefforte des MfS und Orte der Dissidenz in Erfurt« berichtete ein Zeitzeuge über seine Erlebnisse als Reisekader eines Erfurter Kombinats für das sogenannte Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet. Das Interview selbst hat in zwei Phasen etwas mehr als 6 Stunden gedauert, und die Erzählungen über die Tätigkeit als Reisekader bildeten darin eines der durchgängigen Themen. Wir greifen aus diesen Schilderungen eine ganz spezifische Geschichte und besondere Konstellation heraus, weil sie uns paradigmatisch erscheint für Interaktionsbeziehungen unter plausibler Überwachungsvermutung. Bei aller Kuriosität und skurrilen Komik, die ex post fast schon zum Schmunzeln reizt, hat diese Episode einen lebensweltlich ernsten Kern. Denn es standen Alltag und Lebenswelt auf dem Spiel. Wir vermuten, dass der Zeitzeuge nicht umsonst genau dieses Erlebnis selbst sehr klar, deutlich, detailreich und reflektiert beschrieben und damit selber als signifikant markiert hat.
Nach der Wende nahm der Zeitzeuge Einsicht in seine Stasi-Akte und konnte das ganze Ausmaß seiner Überwachung nachlesen: ein umfangreicher Operativer Vorgang mitsamt langjähriger Beschattung durch zwei hauptamtlichen Offiziere und dazu ein halbes Dutzend informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit, zum Teil befreundete Kolleg*innen und Bekannte. Zu DDR-Zeiten konnte er diesen Umfang nicht erahnen, hatte jedoch immer wieder Vermutungen über eine Bespitzelung, die aber – mit einer Ausnahme – im Vagen verblieben und sich nicht konkretisieren ließen. Direkten Kontakt mit dem MfS hatte er wissentlich zu keiner Zeit, obwohl er in seinem Beruf als »Querdenker« galt, der gerne mal Probleme im Arbeitsablauf etc. ansprach. Zwar vermutete er den Gartennachbarn als Spitzel, weil dieser sich immer ganz genau erkundigte, wann wer die Anlage betrat und verließ; bestätigt wurde dieser Umstand aber erst nach der friedlichen Revolution. Das einzige Anzeichen einer Überwachung erhielt er von einer Nachbarin in seinem Wohnhaus in Erfurt. Im Zuge seiner Bewerbung als Reisekader für sein Kombinat erhielt diese Nachbarin Besuch von einem Mann im Anzug, der Fragen über das soziale Leben des Zeitzeugen stellte. Die Nachbarin, die sich gut mit dem Zeitzeugen verstand, berichtete ihm von dem Besuch. Ihm war natürlich bewusst, dass Berufstätige in der DDR, die in solch einem sicherheitspolitisch »heiklen« Beruf arbeiten wollten, sehr sorgsam ausgewählt wurden. Doch nun wusste er von seiner, zumindest zu dieser Zeit, Beobachtung durch das MfS. Da er anscheinend beruflich qualifiziert war und die Stasi keine belastenden Informationen ermitteln konnte, wurde er in den Reisekader befördert. Zwischen 1960 und 1970 tätigte er mehrere Auslandsreisen, u.a. nach Italien, Österreich und Brasilien. Im Zuge einer Reise nach Rio de Janeiro berichtete er von folgender für uns besonders interessanten Erfahrung und Situation:
Zusammen mit einem ihm gänzlich unbekannten Kollegen aus Berlin war er in Rio de Janeiro unterwegs zu einem Handelstreffen. Zuvor mussten die sich wechselseitig Fremden noch in einem Hotelsafe für sie bereitgestellte Unterlagen abholen. Der Safe ließ sich unerwartet schwer öffnen. Offenbar hatte sich etwas in der Tür verklemmt, so dass der Zeitzeuge mit Kraft und Nachdruck die Safetür fast schon aufreißen musste. Als der Safe sich schließlich öffnete, sahen beide die Ursache: In der Tür hatte sich ein großes Geldbündel im Wert von 800 Dollar quer gestellt. Der oder die Vorgänger hatte/n dieses Geld anscheinend vergessen und anschließend offenbar nicht vermisst. Für den Zeitzeugen war dies eine große Summe und gerne wäre er, wie er eingesteht, damit nach Porto Alegre gefahren, um sich dort einen schönen Abend zu machen. Doch zuerst schaute er den Kollegen aus Berlin an und fragte, was nun mit dem Geld passiere. Dieser erwiderte, dass sie ja Sozialisten seien. »Oh je« dachte sich der Zeitzeuge, dann wird es bestimmt nichts mit einem Ausflug oder »halbe-halbe«. Um sich zunächst rechtlich abzusichern, beschlossen sie sich bei der Hotelrezeption zu erkundigen, wem rein rechtlich der Inhalt eines Safes gehöre. Der Rezeptionist bestätigte, dass derjenige, der den Schlüssel zum Safe habe, automatisch das Recht auf den gesamten Inhalt habe. Das Hotel habe mit dem Inhalt gar nichts zu schaffen, weil es nicht dafür zuständig sei. Beide Reisekader schauten sich wieder gegenseitig an und wussten immer noch nicht weiter. Weil sie sich nicht kannten, und es also keinen gemeinsamen Vertrauenshorizont gab, der sich aus langjähriger Zusammenarbeit etwa hätte ergeben können, die vorher gemachte Äußerung eher zur Vorsicht und zur Distanz riet, und die wechselseitige Fremdheit keine Einzelgänge nahe legte, sondern Misstrauen, beschlossen sie gemeinsam zur DDR-Handelsvertretung zu gehen. Dort wollten sie die Angelegenheit erläutern, sich Rat holen, wie mit der Sache umzugehen sei und sich zugleich absichern.
Dort angekommen, mussten beide allerdings feststellen, dass solch ein Fall der Handelsvertretung ebenfalls noch nie begegnet und deshalb völlig unbekannt war. Ein Rat sei daher schwierig. Selbst nach mehrmaligen Bitten, das Geld an sich zu nehmen und zu verwahren, weigerten sich die Angestellten, die US-amerikanischen Dollar anzunehmen. Mehr noch, die Mitarbeiter der Handelsvertretung äußerten die Vermutung, dass dies ja ein Test sei oder sein könnte, um sie hinsichtlich ihrer Loyalität zu überprüfen. Nun begannen der Zeitzeuge und sein Kollege selber daran zu denken, dass das Geld nicht zufällig oder irrtümlich, sondern ganz bewusst im Safe deponiert worden sei, um ihre bzw. der »Nachfolger« Integrität und Verlässlichkeit auf den Prüfstand zu stellen. Aus den 800 US-Dollar war eine »heiße Kartoffel« geworden, an der man sich unzweifelhaft nur die Finger verbrennen konnte. Man sollte bzw. musste es so schnell und so sicher wie nur möglich »loswerden«. Da aus dieser Überlegung und Vermutung heraus jetzt niemand mehr auch nur daran dachte das Geld einzustecken, beschlossen die beiden Reisekader nochmals zur Hotelrezeption zu gehen und diese darum zu bitten, das Geld doch entgegen zu nehmen. Denn so könnten sie wechselseitig und »Berlin« glaubhaft versichern, das Geld nicht privat eingesteckt zu haben. Der Rezeptionist fragte nur aus welchem Land beide stammen, und als er die Antwort hörte, lächelte er. Bereitwillig nahm er das Geld entgegen und begab sich in das Nebenzimmer zu seinen Kollegen. Von dort hörte der Zeitzeuge nach längerem Gemurmel nur noch das lauteste Gelächter seines Lebens und ihm wurde klar: »Es ist nicht wahr, dass Dummheit nicht wehtut. Sie tat weh, sie tat verdammt weh.«
Das Verhalten der beiden Kollegen und der Handelsvertretung als »dumm« darzustellen wäre aus heutiger Rückschau nicht nur vermessen, sondern auch gänzlich unangemessen. Nach 30-jähriger Nachbetrachtung der DDR weiß man um das Ausmaß, in welchem das MfS die Bürger der DDR ausspionierte. Das ist natürlich keine neue Erkenntnis. Für unser Projekt interessant ist jedoch, wie sich diese Überwachung konkret in den Köpfen und im Handeln der überwachten Akteure, letztlich der Bürgerinnen und Bürger der DDR, niederschlug und ausdrückte. Für diese Präsenz der Kontrolle im Denken und Interagieren ist die erzählte Geschichte ein besonders klares Beispiel, gerade weil sie nicht im »eigenen« Land spielt, sondern »weit weg« von der DDR in Brasilien. Die Kontrolle und ihre Mechanismen werden quasi mitgenommen und in der »Fremde« ganz besonders kenntlich. Ihnen gemäß zu handeln (und zu denken), erscheint darum nicht »dumm«, sondern ganz im Gegenteil so unvermeidbar wie höchst rational. Wir sind angesichts dessen der Überzeugung, dass wir diese wirkmächtige Kontrolle durch die SED und das MfS als eine Verinnerlichung der Wirkungsmechanismen eines panoptischen Systems beschreiben und erfassen können. Um dieses System besser verstehen zu können, erfolgt deswegen zunächst ein Exkurs über dessen Ursprung als Überwachungssystem in Gefängnissen.
II: Das Panoptikum von Jeremy Bentham
Das Panoptikum¹ war ein Gebäudeentwurf des britischen Philosophen Jeremy Bentham am Ende des 18. Jhd.², welches die damaligen Haftanstalten nach einem effizienten Kosten-Nutzen-Prinzip in zweifacher Hinsicht revolutionieren sollte. Zum einen architektonisch in Form eines Rundbaus mit einem Beobachtungsraum in der Mitte. Die Einzelzellen sollten an der ringförmigen Außenmauer installiert werden, der Hof zwischen Zellen und Wachturm liegen.³ Die sechs Fuß breiten Zellen sollten gleichzeitig Schlafraum, Bad und Arbeitsbereich in sich vereinen. Diese effiziente Raum- und Flächennutzung ermöglichte aber erst die zweite, für die Betrachtung von modernen Überwachungsprinzipien viel zentralere Revolution des Gebäudes: Das Wirkprinzip der allgegenwärtigen, lückenlosen Überwachung. Der größte Vorteil dieser architektonischen Bauweise lag darin, dass vom zentral, quasi als Nabe des Rundbaus, situierten Wächterturm alle Zellen sowie der Hof jederzeit einseh- und damit schattenlos überwachbar waren. Die Zellen hingegen sollten so konstruiert werden, dass die Insassen nicht nach außen sehen konnten. Sichtverhältnisse waren also nicht wechselseitig, sondern einseitig vom Zentrum dominiert. Somit wäre den Häftlingen auch zu keiner Zeit erkennbar, ob ein Wärter sie im Moment beobachtete oder überhaupt anwesend war. Da es keine Möglichkeit gab, diese Option zu überprüfen, hätten sich die Vermutung des Überwacht-Werdens und das Gefühl des unvermeidbaren Bedrohtseins immer tiefer in das Bewusstsein der Gefangenen gefressen. Natürlich hätte dieser Zustand der gefühlten Überwachung zunächst einer gewissen Zeit bedurft, um verinnerlicht zu werden. In einer Art Anfangsphase hätten Aufseher bei neuen Insassen mehr präsent sein und beobachten müssen, um unerwünschtes Verhalten sofort zu erkennen und umgehend zu sanktionieren. Gänzlich unfühlbar oder unsichtbar durfte die Überwachung zunächst nicht sein. Aber je öfter die konkrete Erfahrung der Kontroll- und Sanktionsmacht gemacht worden wäre, desto eher hätte eine Selbstdisziplinierung des Individuums eingesetzt und der Grad der konkreten Überwachung hätte heruntergefahren werden können. Bentham selber hat genau darauf abgezielt. Zwar konnte ein Aufseher nur bis zu vier Zellen gleichzeitig beobachten, doch waren laut Bentham nicht mehr als zwei Aufseher für das gesamte Gebäude zeitgleich notwendig, wenn die allgegenwärtige Überwachung von den Gefangenen erst einmal verinnerlicht worden wäre.
Das Panoptikum war für Bentham jedoch mehr als ein Gefängnis. Er sah das Potential des Überwachungsdruckes als Mittel für ein größeres utilitaristisches Projekt. Die Aufseher sollten wiederum beobachtet werden, um Machtmissbrauch zu verhindern, und das Konzept auf andere Institutionen wie Irrenhäuser, Fabriken, Arbeitsstätten oder Schulen ausgeweitet werden. Er erhoffte sich durch eine universale Verwendung eine Erhöhung der Produktivität, eine Moralverbesserung beim Menschen und letztendlich eine Verbesserung des gesamten gesellschaftlichen Lebens.⁴
¹ Welzbacher [Hrsg.]: Bentham: Das Panoptikum, Berlin 2013.
² Ursprünglich umfasste das »Panopticon« 21 Briefe von Bentham, die erstmalig 1787 veröffentlicht wurden.
³ Vgl. Bentham: Das Panoptikum, S. 13–18.
⁴ Vgl. Bentham: Das Panoptikum, S. 88–90, S. 96
III: Der Panoptismus
Dieser Entwurf schaffte es von der konzeptionellen Planungsphase im Geiste der Aufklärung erst im Laufe des 19. Jhd. zu realexistierenden Gefängnisbauten, u.a. in England, Italien, Deutschland, Australien, Kuba oder die USA.⁵ In Schulen, Fabriken oder andere Institutionen wurde das panoptische System hingegen nicht architektonisch umgesetzt, wohl aber das Prinzip der psychophysischen Regulierungskraft der Selbstdisziplin des Individuums durch ein Normierungsnetz unterschiedlicher Akteure auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet. Zumindest hat Michel Foucault in seinem Werk »Überwachen und Strafen« anhand seiner Untersuchung über die Entwicklung von Strafsystemen im Europa des 18. Jhd. die These vertreten, das panoptische Wirkungsprinzip sei nicht nur in Haftanstalten, sondern in nahezu allen wichtigen Institutionen einer modernen Gesellschaft zur Anwendung gelangt.⁶
Ausgangspunkt der Untersuchung waren für Foucault die Veränderungen im Justiz- und Strafsystem zu Zeiten gesellschaftlicher Transformation in Frankreich und England aufgrund der Einflüsse der Aufklärung, der industriellen Revolution sowie der Ausprägung von Nationalstaaten.⁷ Durch diese veränderten Rahmenbedingungen wurden im Laufe des 19. Jhd. sukzessiv statt Geld- oder Todesstrafen nun Haftstrafen zum Regelfall, und die Gefängnisse wandelten sich von Züchtigungs- zu Umschulungsanstalten.⁸ Ziel war nun, ganz im Sinne von Bentham, dort mittels Disziplin, Kontrolle und Überwachung die Häftlinge auf den »Pfad der Tugend« zu begleiten und dem Staat sowie der Ökonomie seine Subjekte »geläutert« zurückzuerstatten.⁹ Das Haft-Panoptikum stellt für Foucault aber nur einen perfekten Spiegel der allgemeinen Formierung einer modernen Disziplinargesellschaft im 19. Jhd. dar: »Diese Anlage ist deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert und entindividualisiert. Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem die Individuen gefangen sind.«¹⁰ Im Foucaultschen Sinne wird Macht in modernen Gesellschaften hauptsächlich durch ein panoptisches System und Beziehungsgeflecht von Normen, Ritualen und Gesetzen produziert. Zugleich produziert und reproduziert dieses System durch Disziplin, Kontrolle und Überwachen seine eigenen an- und eingepassten Individuen: »Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.«¹¹
Ganz im Sinne von Bentham wurden laut Foucault die Überwachungsprinzipien in modernen Gesellschaften sukzessiv von den Gefängnissen auf andere gesellschaftliche Institutionen, wie Schulen oder Arbeitsstätten übertragen, um somit die Macht auf verschiedene mikrophysische Zellen aufzuteilen. Der von Foucault geprägte Begriff »Panoptismus« beschreibt deswegen ein allgegenwärtiges Überwachungsnetz, welches sich durch die Installation verschiedenster Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen in staatlichen, betrieblichen sowie gesellschaftlichen Institutionen manifestiert und in die Körper einschreibt. Jeder Bereich für sich stellt eine »Mikrophysik der Macht« in Zellenform dar.¹² Um im System vernünftig bestehen zu können, ist die Anerkennung, Einhaltung und Reproduktion der bestehenden Normen, wie z.B. Rechtsnormen, soziale Normen oder Arbeitsnormen und Rituale unabdingbar. Diese können, je nach Normtypus, von der Exekutive (Rechtsnormen), Vorgesetzten (Arbeitsnormen) oder den Mitmenschen (soziale Normen) zu jeder Zeit überprüft und sanktioniert werden, müssen es aber nicht. Nach Foucault halten sich deswegen die meisten Menschen an die aufgestellten Normen, weil niemand genau weiß, ob er aktuell bei Normverstößen beobachtet wird. Dieses Prinzip einer Unsicherheit über eine allgegenwärtige Überwachung setzte die SED und besonders das MfS für seine Herrschaftslegitimation und Herrschaftspraxis in großem Maße ein.
⁵ Vgl. Welzbacher: Der radikale Narr des Kapitals, Berlin 2011, S. 220.
⁶ Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M 1977, u.a. S. 355. Wir wollen hier nicht in eine Diskussion eintreten, ob sich diese Foucaultsche These aufrechterhalten lässt oder nicht, wie wir auch nicht debattieren wollen, ob Norbert Elias› Vorstellung einer Verwandlung von Fremdzwang in Selbstzwang als zivilisatorischer Fortschritt zu werten ist. Wir benutzen Foucaults Analysen lediglich als eine Heuristik.
⁷ Vgl. Ebd., S. 99.
⁸ Vgl. Ebd., S. 143.
⁹ Vgl. Ebd., S. 159.
¹⁰ Ebd., S. 258f.
¹¹ Ebd., S. 260.
¹² Vgl. Ebd., S. 191.
IV: Die DDR, das MfS und der Panoptismus
Verstöße gegen soziale Normen resultieren i.d.R. nicht in rechtlichen Sanktionen. Anders ist dies bei Verletzungen von Arbeitsnormen, besonders jedoch bei Verstößen gegen eine bindende Rechtsnorm. In Staaten mit einem transparenten Legislativ- und Justizsystem wissen die Individuen zumeist sehr konkret, welche Sanktionen unter welchen Bedingungen für Rechtsverstöße zu erwarten sind. Die DDR basierte aber auf den Prinzipien des demokratischen Zentralismus, das heißt, eine Kontrolle oder Begrenzung der staatlichen Gewalt und vor allem Willkür durch Gewaltenteilung und Gouvernementalität wurde von der SED abgelehnt.¹³ Ihre Herrschaftslegitimation und –praxis ruhte auf der Überzeugung, eine gesetzmäßige historische Führungsrolle auf dem Weg zum Sozialismus und Kommunismus einzunehmen. Legitime Kontrolle seitens anderer Instanzen oder gar der Bürgerinnen und Bürger konnte es gar nicht geben.
Zugleich erschuf die SED zur Etablierung und Sicherung ihrer Herrschaft »Mikroräume der Macht«. In der DDR wurden diese allerdings fast vollständig von einer einzigen Machtzentrale installiert. Nahezu alle Räume des öffentlichen, betrieblichen oder gesellschaftlichen Lebens waren in staatlicher Hand und der SED-Staatsapparat der einzige Normersteller für die Gesellschaft.¹⁴ Dies ist insofern problematisch, da durch das Fehlen einer Gewaltenteilung, einer Gesetzmäßigkeit der Verwaltung oder einer Unabhängigkeit der Gerichte (um von einer eigenständigen Zivilgesellschaft zu schweigen), das Rechtswesen der DDR keinen (modernen) rechtsstaatlichen Standards entsprach und eine politisch-unkontrollierte und willkürliche Einflussnahme in alle Bereiche der Gesellschaft gängige Praxis war.¹⁵ Gerade der Bereich der politischen Straftaten, wie »staatsfeindliche Hetze« (§§ 104, 105, 106 DDR-StGB), »Rowdytum« oder »ungesetzliche Verbindungsaufnahme« (§§ 215, 219 DDR-StGB) boten vor Gericht einen großen Interpretationsspielraum und die entsprechenden Strafen variierten je nach Fall stark. Die Bürger der DDR konnten sich demnach nie sicher sein, welches Strafmaß sie unter welchen Umständen im Konkreten erwartete. Zur Durchsetzung der Legislative wurde, neben der Volkspolizei, das MfS als »Schild und Schwert der Partei« installiert. Dessen Hauptaufgabe war es, »der Partei rechtzeitig strategische und taktische Informationen über den Gegner zur Verfügung zu stellen, […] feindliche Machenschaften gegen die DDR zu verhindern, innere Feinde zu entlarven und die Sicherheit der DDR unter allen Lagebedingungen zu gewährleisten sowie Schäden und Schadenshandlungen durch Vorbeugung, höhere Wachsamkeit, Disziplin und Ordnung zu verhindern.«¹⁶
Das Ministerium beruhte nicht auf einem Gesetz, sondern auf einem Beschluss des Politbüros¹⁷ und war hinsichtlich der Wahl seiner Mittel und Methoden formal unabhängig von parteilichen Vorgaben. Gleichwohl wurden seine Aufgaben, Ziele und Befugnisse durch Richtlinien, Befehle und Dienstanweisungen der SED-Führung geregelt und waren nicht öffentlich, sondern geheim.¹⁸ Um seine Aufgaben erfüllen zu können, war die Staatssicherheit nach einem Territorialprinzip strukturiert. Dem Hauptsitz in Berlin waren insgesamt 15 Bezirksverwaltungen nachgeordnet, welche wiederum Städten Kreisdienststellen und in Betrieben und anderen wichtigen Einrichtungen diverse Objektdienststellen anleiteten. In jedem Ort der DDR sollte mindestens eine MfS-Diensteinheit auf Abruf sein. Deswegen waren 1989 über 90.000 Hauptamtliche Mitarbeiter¹⁹ für das MfS tätig, die im Laufe der DDR-Geschichte von etwa 600.000 Informellen Mitarbeitern (IM)²⁰ unterstützt wurden. Das Ziel einer flächendeckenden Durchdringung und Überwachung konnte aber nur in enger Zusammenarbeit der Dienststellen untereinander sowie durch die Zusammenarbeit mit anderen staatlichen Organen, gesellschaftlichen Organisationen, Betrieben, Staatsanwaltschaften und der Volkspolizei bewerkstelligt und sicher gestellt werden. Die Zusammenarbeit war nicht nur auf die Informationsweiterleitung und den –austausch beschränkt, sondern erstreckte sich auf ein »politisch-operatives Zusammenwirken«²¹ der Einrichtungen. Oftmals fand eine Zusammenarbeit mit anderen Institutionen schon alleine durch installierte IM statt.
Der ganze Apparat diente neben der Spionageaufklärung, welche nur einen kleinen Teil der Tätigkeit des MfS ausmachte, in erster Linie zum Schutz der Ideologie und des Herrschaftssystems der SED im Inland. In das Fadenkreuz gerieten diejenigen, welche sich öffentlich im Handeln mehr oder weniger nicht anpassten, also die Normen der SED verletzten. Normenverletzung hieß aus Sicht der SED »feindliche Manipulation« bzw. »politisch-ideologische Diversion.«²² In der Praxis bedeutete dies, dass auch Menschen, die mit den politischen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen in der DDR nicht zufrieden waren, jederzeit in das Visier und unter Beobachtung geraten konnten. Durch die verschiedenen Stufen der Überwachung, von »einfachen« Sicherheitsüberprüfungen bei der Besetzung bedeutsamer Position bis hin zu Operativen Vorgängen, wo gezielt gegen Personen in »begründeten« Verdachtsfällen umfangreichere Bespitzelungsmaßnahmen eingeleitet wurden, wird deutlich, dass nicht nur gegen sogenannte »Rädelsführer oppositioneller Gruppen« vorgegangen, sondern de facto die gesamte Bevölkerung kontrollierend und disziplinierend im Auge behalten wurde. Die ständige Durchführung der technischen Überwachung des Post- und Telefonwesens verdeutlicht die Präsenz, den Umfang und das Ausmaß der Bespitzelung der eigenen Bevölkerung nochmals deutlich.²³
Stellte für Foucault das Panoptikum ein Paradebeispiel einer Disziplinargesellschaft dar, kann bei genauer Betrachtung des Aufbaues, der Zielsetzung und der Arbeitsweisen des MfS festgehalten werden, dass diese Institution der Versuch war, das »Panoptikum« endgültig auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten. Das ganze System der Stasi in der Kombination mit den zahlreichen anderen Mikroräumen der Macht führten zu einem Syndrom: dem Syndrom einer allgegenwärtigen, alles sehenden Stasi bzw. SED. Dieses Syndrom, dieses Master-Narrativ wurde von den Individuen auf unterschiedlichste Weise immer wieder erfahren und über diverse Sozialisationsinstanzen internalisiert. Letztendlich produzierte diese Internalisierung eines permanenten Unterworfen-Seins unter eine unkontrollierbare Überwachung einen Grad der Verunsicherung, der auf allen Ebenen allgegenwärtig war. Was bei Bentham noch der eine konkrete Aufseher im zentralen Turm war, verliert sich bei der Arbeit des MfS in verschiedene Abteilungen, Formen und Arbeitsweisen zur Durchdringung der Gesellschaft. Ein Geflecht aus sichtbaren Haftanstalten und Grenzüberwachung wurde mit einem Netz ausunangekündigten Hausbesuchen, Kontrollieren der Post, des Telefons usw. und möglichst unsichtbaren IM und Konspirativen Wohnungen sukzessiv erweitert. Die Haftanstalten waren für jeden sichtbare Sanktionsanstalten und deren Methoden verbreiteten sich spätestens durch die Freilassung von Insassen in der Gesellschaft. Das Grenzregime und jeder Versuch eines unerlaubten Grenzübertritts, seit 1961 offiziell verboten, waren nicht nur für die oder den Flüchtende/n mit extremen Risiken und mit offensichtlichen Sanktionen verbunden, sondern führten auch der unbeteiligten Bevölkerung die Bestrafungsmacht des SED-Staates vor Augen. Auch war jedem klar, was zu Sanktionen führte: die kleinste Infragestellung des monopolartigen Normerstellers in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen (Politik, Wirtschaft, Kultur, etc.).
Was jedoch unberechenbar blieb, war die willkürliche Ausübung der judikativen und exekutiven Macht des Normerstellers, also der SED. Gerade diese (klassischer Weise: tyrannisch genannte) Willkürmacht schuf und unterhielt eine besondere Sphäre der jederzeit möglichen Überwachung mitsamt unkalkulierbaren Sanktionen. Der am Anfang präsentierte Ausschnitt aus dem Interview hat dieses Syndrom im Einzelnen reflexiv dargelegt. Im Grunde handelt es sich um ein Dreiecksverhältnis: Ego – Alter als Basislinie und der »Blick der Macht« (SED-Staat bzw. das MfS) als die Spitze des Dreiecks. Die Interaktionen von Ego und Alter werden wechselseitig mit Blick auf die (plausibel unterstellten) Macht-Erwartungen und möglichen Sanktionen reguliert. Da die Macht aber unberechenbar ist und willkürlich, ist diese wechselseitige Interaktionskoordination extrem prekär und gefährlich. Das heißt: immer abgründig und fundamental unsicher. Alles kann schiefgehen und alles ist möglich. Auch, dass nichts passiert. Aber eben auch, dass ein eigentlich glücklicher Geldfund ein »Test« sein könnte, um die Verlässlichkeit der Außenhandelsvertretung zu prüfen. Die Reaktion ist ein ritualisiertes Verhalten, das nach den bisher als erfolgreich erfahrenen Standards abläuft: Mit der »heißen Kartoffel« erst gar nicht in Berührung kommen (Handelsvertretung), oder sie nach den trainierten Verfahren des Panoptikums so schnell wie möglich loswerden. Ritus, Fassade, Angst und das Fehlen jeglicher Kontrollmechanismen bestimmen das Handeln der Akteure.
Und das wissen die Akteure wechselseitig voneinander. Das rituelle Weitermachen ist nicht die einzige Option, aber die mit den wenigsten Risiken behaftete, gleichwohl nie risikofreie. Deshalb ist sie situativ vernünftig, und der Vorschlag eines Ausflugs nach Porto Allegre selbst gefährdend und bestenfalls naiv. Ob die Macht dann tatsächlich beobachtet, ist völlig gleichgültig geworden. Das Zentrum oder die Spitze muss nicht immer zuschauen – und es funktioniert trotzdem, da die willkürliche Kontrollmacht ja bereits internalisiert wurde. Dass beide Akteure um diese Konstellation wissen, sich diese je für sich selbst bewusst machen und doch im angstbesetzen Ritus gefangen bleiben, markiert nicht nur das Hobbes’sche Dilemma sicherungslosen Misstrauens, sondern verschärft das Diktums Sartres: Die Hölle sind nicht nur die anderen. Die Hölle sind wir uns alle selber.
Eine flächendeckende Überwachung wäre anscheinend gar nicht notwendig gewesen, solange dieses Syndrom in der Bevölkerung aufrechterhalten worden wäre. Allerdings bedarf die Aufrechterhaltung einer solchen Internalisierung gleichwohl einer (un)stetigen Erinnerung in situ. Ein »dezentes« Zeigen, ein konkretes Ausüben, um vorzuführen, dass Überwachung und Sanktionen präsent sind und ständig zuschlagen können. Andernfalls würde eine nicht mehr akute Überwachung irgendwann auffliegen, weil nicht alle Menschen die Überwachung so verinnerlicht haben wie der Zeitzeuge und seine Mitakteure. Auch ein Panoptikum kann soziale Interaktionen natürlich nicht determinieren. Unerwartete Formen des Handelns sind immer möglich. Worauf Überwachung und ihr willkürliches Bestrafen abzielt, ist die Wahrscheinlichkeit von Abweichung so weit wie nur irgend möglich zu minimieren, gerade vor dem Hintergrund, dass »Abweichung« immer möglich bleibt. Die Barrieren im Kopf, die Handeln routinisieren, müssen erzeugt, installiert und immer wieder aktualisiert werden. Wenn zu viele trotz der Angst vor Überwachung und Sanktionen Risiken eingehen und dann bemerken, dass keine Sanktionen folgen, dann wird die Fassade der Gesamtüberwachung auf lange Sicht bröckeln und der »Kaiser nackt sein«. Ein zentraler, notwendiger Kern dieser Aufrechterhaltung des Syndroms ist deshalb die alltägliche Präsenz vor Ort: Der Besuch der Staatssicherheit bei der Nachbarin im Zuge der NSW-Sicherheitsüberprüfung.
Weit davon entfernt, heimlich durchgeführt zu werden, ist die Sichtbarkeit der Vertreter des MfS gerade ein Ausweis ihrer Kontrollmacht. Die – vom Blick der Nachbarin aus gesehen – scheinbar subversive Aktion, dem Zeitzeugen den Besuch zu »verraten«, erweist sich vor diesem Hintergrund als das genaue Gegenteil: dem Offizier des MfS kann es nur recht sein, wenn die Master-Erzählung erinnert und das Gelernte des Handelns wieder vergegenwärtigt wird. Alle Beteiligten erhalten in ihrem Handeln das Syndrom und Panoptikum aufrecht. Der Zeitzeuge und seine Familie wissen, dass sie zumindest überprüft/überwacht werden und die Nachbarin weiß, dass in ihrem Umfeld das MfS auch tätig werden kann. Vollständige Konspiration (also ein Ermitteln ohne sich zu erkennen zu geben) war deswegen wahrscheinlich gar nicht immer erwünscht, weil die Bürger immer wieder durch diese (minimale) Sichtbarmachung daran erinnert wurden, dass die Überwachung mitsamt Sanktionen jederzeit geschehen und auch sie treffen konnte.
¹³ Vgl. Thomas: DDR: Politisches System. In: Weidenfeld/Korte [Hrsg.]: Handbuch zur deutschen Einheit 1949–1989–1999, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 181; Kowalczuk: Die 101 wichtigsten Fragen. DDR, München 2009, S. 34.
¹⁴ Vgl. Bernhardt/Werner: »Macht-Räume in der DDR«, in: Deutschland Archiv, 16.5.2017.
¹⁵ Vgl. Konrad-Adenauer-Stiftung: DDR – Mythos und Wirklichkeit. Mythos: »Die DDR war ein Rechtsstaat«, 2016, online unter: https://www.adenauercampus.de/de/ddr-mythos-und-wirklichkeit/detail/-/content/die-ddr-war-ein-rechtsstaat
¹⁶ Suckut: Das Wörterbuch der Staatssicherheit, Berlin 2001, Stichwort »Hauptaufgabe«.
¹⁷ Beschluss des Politbüros über das MfS vom 24.01.1950, zit. bei: Hoffmann/Schmidt/Skyba: Die
DDR vor dem Mauerbau, München 1993, S. 55.
¹⁸ Vgl. Gill/Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit, Berlin 1991, S. 31; Gauk: Die Stasi-Akten, Reinbek 1991, S. 72.
¹⁹ Vgl. Henke/Engelmann [Hrsg.]: Aktenlage: Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung, 2. Aufl., Berlin 1996, S. 20 (91.000 hauptamtliche Mitarbeiter 1989)
²⁰ Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Berlin 1996, S. 7.
²¹ Herz: Bürger im Visier, Erfurt 1996, S. 88.
²² Mampel: Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR als Ideologiepolizei, Berlin 1996, S. 41.
²³ Vgl. Herz: Bürger im Visier, S. 39–40.
V: Fazit
Gerade heutzutage ist eine Überwachung durch neue technische Errungenschaften wie Internet, PC, Smartphone oder Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen, theoretisch einfacher als jemals zuvor. Allein über das Smartphone, ständiger Begleiter des Alltages vieler Menschen, können theoretisch jederzeit via eingebautes Mikrophon Telefonate und Gespräche der Umgebung mitgeschnitten, dank zweifacher Kamera das Individuum und seine Umwelt zeitgleich erfasst, mithilfe GPS und Mobilfunkmasten der Standort ermittelt und mittels Internetprovider der E-Mailverkehr und besuchte Seiten des »World Wide Webs« dokumentiert werden. Kurzum: Ein Geheimdienst wie die Stasi würde sich in der heutigen Zeit wie in einem Schlaraffenland fühlen. Dass Daten von staatlichen Geheimdiensten in großem Umfang verdachtsunabhängig abgegriffen und analysiert werden, ist spätestens seit der Offenlegung von NSA-Geheimakten durch den Whistleblower Edward Snowden im Jahr 2013 weltweit bekannt. Nach einem (medialen) großen Aufschrei änderte sich dadurch im Verhalten der Individuen im Allgemeinen aber augenscheinlich wenig. Jahr für Jahr nimmt die Internetnutzung zu, Smartphones wurden nicht aus dem Alltag verbannt, sondern sogar immer mehr mit dem Internet der Dinge, also »smarten« Kühlschränken, Autos oder Fernsehern gekoppelt. Letztendlich wird die Privatsphäre des Einzelnen für einen bequemeren Alltag ganz bewusst jeden Tag ein Stück weit mehr geopfert. Doch ist es nur die Bequemlichkeit, welche die Aufgabe der Privatsphäre zulässt? Oder ist es vielmehr das basale Vertrauen in einen funktionierenden Rechtsstaat mitsamt Gewaltenteilung und einer transparenten Gesellschaft, in welcher (noch) viele dezentrale Normersteller die Individuen prägen und Widerspruch sanktionsfrei möglich und erwünscht ist? Doch wie belastbar, dauerhaft und resilient ist dieses Vertrauen? Wie manipulierbar ist es?
Der Blick in die Vergangenheit, konkret in die DDR-Zeit, zeigt jedenfalls auf, zu was eine monopolartige Macht mit den Möglichkeiten eines panoptischen Wirkungssystems in der Lage ist: Die Verunsicherung einer gesamten Gesellschaft, tägliches, eingeübtes und im Alltag praktiziertes Misstrauen dem Mitmenschen gegenüber und ständige Angst vor willkürlichen Sanktionen durch staatliche Institutionen.
Obwohl die Wirkungsweisen des Foucaultsche Panoptikums in der Vergangenheit von mehreren Seiten abgelehnt wurden²⁴, konnte das theoretische Konzept mittlerweile empirisch anhand von Untersuchungen der Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen nachgewiesen werden.²⁵ Andere Forschungen, speziell über die Auswirkungen des Gefühls der alltäglichen Überwachung auf zwischenmenschliche Interaktionen im Alltag, befinden sich aber noch in Arbeit.²⁶ Genauere Blicke in die Geschichte, im Besonderen auf die DDR und das MfS könnten deswegen schon einmal im kleinen Rahmen Einblicke auf mögliche Veränderungen im Alltagsleben von Menschen (und der Menschen selbst) unter solchen Bedingungen bieten. In weiteren Interviews wird das Teilprojekt nun (auch) untersuchen, wie andere Bürgerinnen und Bürger in Erfurt, etwa gerade auch aus dem oppositionellen Spektrum, eine allgegenwärtige Überwachung internalisiert hatten und wie und aus welchen Gründen sie diese im Laufe ihres Lebens in der DDR veränderten, sprengten, überwanden und damit – im wahrsten Wortsinne – ausbrachen.
²⁴ Bsp. Haggerty: Tear down the walls, in: Lyon [Hrsg.]: Theorizing Surveillance, New York/London 2006, S. 23–45; McCahill: Beyond Foucault, in: Norris/Moran/Armstrong [Hrsg.] Surveillance, Ashgate 1998, S. 41–65.
²⁵ Rothmann: Video Surveillance and the Right of Access, in: Surveillance & Society, Band 15, Nr. 2, 2017, S. 222–238.
²⁶ Hannah Arendt hat die Folgen totalitärer Herrschaft für menschliches Miteinander-Handeln beschrieben. Darin gehen die Vernichtung des Politischen mit dem Welt- und Selbstverlust der Menschen Hand in Hand. Wir möchten die verschiedenen Handlungsformen von Menschen erfragen, beschreiben, analysieren, die einer panoptischen, permanent lauernden und gleichwohl nie gesicherten Überwachung unterworfen waren; Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 12. Aufl. München 2008, S. 840–867, 934–979.
Bibliographie
- Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 12. Aufl. München 2008.
- Bernhardt, Christoph/Werner, Oliver: »Macht-Räume in der DDR« – Plädoyer für eine raumbezogene Analyse des sozialistischen Herrschaftssystems, in: Deutschland Archiv, 16.5.2017, online unter: www.bpb.de/248011.
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Veröffentlicht am: 27. April 2020, 09:00 Uhr