„Belagerung der Köpfe“. Alltägliche Utopien in Filmdokumentationen der DDR-, Umbruchs- und Transformationszeit
Ziel des kultur- und filmgeschichtlichen Forschungsbeitrags ist es, die von Diktatur, Revolution und Transformation dreifach geprägte »ostdeutsche Erfahrung« auf wirkmächtig gebliebene Alltagsvorstellungen gelungenen gesellschaftlichen Miteinanders zu untersuchen. Ausgangspunkt ist die Feststellung des Filmemachers Thomas Heise von 2009, dass ungenutzte, nicht oder nur teilweise realisierte Gesellschaftsbilder langfristig wirksame Überreste darstellen können: »Das, was übrig geblieben ist, belagert meinen Kopf.« Solche filmischen Diskurse um unabgegoltene, vergangene Hoffnungen, Sehnsüchte und Ängste werden in der Studie mit historiographischen Analysen verknüpft, wie etwa mit C. Morinas Beobachtung (2023), die 1989 »liegen gebliebene[n] Ideen von Basisdemokratie« stellten einen effektiven Anknüpfungspunkt für Rechtsextreme und Populisten dar.
Die »Belagerung der Köpfe« durch unabgegoltene Gesellschaftsbilder wird in der Studie anhand von dokumentarischen Filmquellen aus DDR-, Umbruchs- und Transformationszeit untersucht. Das Korpus setzt sich wie folgt zusammen: Für die Phase bis 1989 eignen sich insbesondere Filmdokumente aus der »Staatlichen Filmdokumentation« (SFD), die 1971–1986 »typische« Quellenmaterialien zur DDR mit repräsentativem Anspruch erstellte. Für zukünftige gesellschaftliche Selbstverständigungen dokumentierte sie sich wandelnde Arbeitswelten, Familienmodelle, Freizeit- und Wohnbedingungen, aber auch Werte und ethisch-moralische Einstellungen. In der Phase des Umbruchs 1989 ist eine Beschleunigung nicht nur von Ereignissen, sondern auch von Debatten und Produktionsbedingungen zu beobachten, die sich im DDR-Film oft in Gestalt filmischer Materialsammlungen äußerte. Die Studie bezieht sich hier vor allem auf die umfangreiche Filmdokumentation »Material« des ehemaligen SFD-Filmemachers Thomas Heise mit filmischen Überresten der Jahre 1988–2009. Kontrovers diskutiert wurde Heises Trilogie »Halle-Neustadt« (1992–2007), die vor dem Hintergrund von Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit auch Fragen nach Wohnen, Familie, Freizeit, Armut und Arbeit/Arbeitslosigkeit stellt.
Der Forschungsbeitrag nutzt im Anschluss an eine filmwissenschaftlich verstandene visual history die komplexe Quelle Film, um nicht nur Themen, Stimmungen und »Diskursordnungen des Bildlichen« (G. Paul) zu analysieren, sondern auch die sich wandelnden Perspektivierungen des Materials durch Filmemacher und Filmemacherinnen sowie ihre impliziten Ansprachen des imaginären Zuschauers. Auf dieser Grundlage wird nach Argumenten und Bezugspunkten nichtrealisierter Alltagsvorstellungen des gelungenen gesellschaftlichen Miteinanders in filmischen Diskursen der DDR-, Umbruchs- und Transformationszeit gefragt. Wurden diese Ideen mehr oder weniger bruchlos über die Zäsur 1989/90 transferiert, wandelten sie sich den neuen gesellschaftlichen Bedingungen an oder wendeten sie sich vielmehr gegen sie? Bezogen sich die beiseitegelegten alltäglichen Utopien eher auf spezifisch ostdeutsche, auf allgemein staatssozialistische oder eher auf gesamtdeutsche Zusammenhänge? Im Ergebnis trägt die Studie dazu bei, eine vermeintlich feststehende »ostdeutsche Erfahrung« durch das in zeitgenössischen Filmen enthaltene Wissen zu ergänzen und in Bewegung zu bringen.