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Das Corona-Virus sorgt dafür, dass das öffentliche Leben nahezu zum Erliegen gekommen ist. Auch unser Forschungsverbund ist davon betroffen. Veranstaltungen und Treffen mussten abgesagt oder verschoben werden, Bibliotheken, Universitäten und Büros sind geschlossen. Dennoch geht die Arbeit, wenn auch eingeschränkt, weiter. In den kommenden Tagen möchten wir die Gelegenheit nutzen, Ihnen an dieser Stelle in mehreren Beiträgen einen tieferen Einblick in die Arbeit unserer Teilprojekte zu geben.
Der zweite Beitrag kommt von Annika Jahns aus dem Teilprojekt »Die vergessene DDR-Literatur. Der ›Zirkel schreibender Arbeiter‹ als Schreibraum und Erinnerungsgemeinschaft«. Ausgehend von dem beispielhaft ausgewählten Gedicht »Irgendwann« von Klaus Bulling gibt sie uns einen ersten historischen Überblick und eine Einordnung des ›Zirkel schreibender Arbeiter‹.
Annika Jahns: »›Irgendwann schreibe ich tausendundeinen Roman‹ – Der Zirkel Schreibender Arbeiter des VEB Carl Zeiss Jena«
»Irgendwann
trage ich ab den Briefschuldenberg
Irgendwann
spiele ich wieder Klavier und lerne
Orgel und Blockflöte dazu
Irgendwann
schreibe ich tausendundeinen Roman,
liefere ich Dissertationen vom Band und
fasse die StVO in Verse
Irgendwann
werde ich bitter entbehren das Glück,
daß ihr all meine Zeit beansprucht«
– Klaus Bulling
Vielleicht ist die prophetische Ahnung des Ichs in diesem Gedicht für Sie nun Wirklichkeit, die Zukunft zur Gegenwart geworden und Sie vermissen in Zeiten von Social Distancing ihre Mitmenschen, die Ihnen sonst zuweilen nervig, aufdringlich und fordernd erschienen? Ist »Irgendwann« jetzt, 2020? Oder aber Sie befinden sich genau umgekehrt in der Position, dass Sie doch ganz gerne etwas mehr Abstand von den in ihrem Haushalt lebenden Menschen hätten? Dann gibt es immerhin die Perspektive, dass die aktuelle Situation »irgendwann« vorbei ist, dass Sie die Zeit dieser intensiven Nähe dann doch vermissen könnten und Sie sie deshalb heute möglicherweise doch mehr schätzen lernen sollten…
Dieses Gedicht, das derzeit überraschend aktuelle Perspektiven entwickelt, obwohl es ohnehin eine zeitlose Reflexion über das Leben mit Mitmenschen formuliert, ist geschrieben von Klaus Bulling und passenderweise lediglich als undatiertes Manuskript überliefert. Klaus Bulling war Diplomphilologe und wissenschaftlicher Bibliothekar an der Universitätsbibliothek in Jena – und seit 1977 ›schreibender Arbeiter‹.
Der Zirkel Schreibender Arbeiter des VEB Carl Zeiss Jena, dem Bulling angehörte, wurde am 11. Februar 1960 gegründet und setzte damit den an die Arbeiter adressierten Ruf »Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalkultur braucht dich!« von der ›Bitterfelder Konferenz‹ am 24. April 1959 um. Im Rahmen des sogenannten ›Bitterfelder Weges‹, der damit seinen Anfang nahm, sollten einerseits die Berufsschriftsteller in die Betriebe entsendet werden, um sie mit sozialistischen Sujets zu versorgen und die Literatur und die sozialistische Lebenspraxis zu verbinden. Andererseits sollte auch die Arbeiterklasse nun, so Walter Ulbricht, »die Höhen der Kultur stürmen«, sie sollte selber zum Produzenten von Kunst und Kultur werden und diese möglichst ganz im Sinne des sozialistischen Staates prägen. Eng verwoben waren damit von Beginn an einerseits ein idealistischer Emanzipationsanspruch für diejenigen, denen bis dahin klassische Bildung verwehrt geblieben war, und andererseits eine autoritäre Erziehungsintention zur sozialistischen Bewusstseins- und Persönlichkeitsbildung.
Bereits in der oben zitierten zentralen Losung zeigt sich das der Bewegung der Schreibenden Arbeiter inhärente ambivalente Verhältnis von gewollter Eigeninitiative auf der einen und staatlichen Ansprüchen und Vorgaben auf der anderen Seite. Und auch in Jena spiegelt sich das Mischverhältnis von Basisbewegung und Installation ›von oben‹ in der Darstellung, auf wen die Gründung des dortigen Zirkels Schreibender Arbeiter am Zeiss-Betrieb zurückzuführen sei, wider: Die Initiative zu dieser sei ausgegangen von der Kreisleitung des Kulturbundes, zwei Kulturfunktionären des VEB Carl Zeiss sowie zwei Zeiss-Arbeitern.
Der Zirkel traf sich von nun an in einem Rhythmus von zwei Wochen an einem Abend in der Woche für ein paar Stunden im Kulturhaus Volkshaus Jena, um sich literarisch zu bilden und eigene Texte zu diskutieren. Leiter des Zirkels und prägendste Figur der Jenaer Schreibenden Arbeiter war von Beginn an bis 1987 Dr. Wolfgang Schütz. Er war Dozent für Ältere deutsche Sprache sowie Literatur und Gegenwartssprache an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Vorsitzender der Kreisleitung Jena-Stadt des Kulturbundes und später auch bis 1982 Vorsitzender der Bezirksarbeitsgemeinschaft Gera, die die Arbeit aller Zirkel des Bezirkes koordinierte und gemeinsame Werkstatttage veranstaltete. 1970 wurde er für sein Engagement und seine Verdienste innerhalb der Bewegung Schreibender Arbeiter mit dem Kunstpreis des Bezirkes Gera ausgezeichnet, nachdem er bereits neben acht weiteren Zirkelmitgliedern 1969 die »Nadel für Verdienste im Volkskunstschaffen« erhalten hatte. Befragt zu seiner Auffassung des Zirkels und seiner Konzeption der Arbeit mit diesem, formulierte er 1969 in einem Zeitungsinterview:
»Der Zirkel – das war mein Grundgedanke – sollte eine Schule des guten Schreibens werden und, da Schreiben ohne Denken nicht möglich ist, zugleich eine Schule des Denkens. Dabei war mir klar, daß ein solcher Zirkel nur dann eine nützliche Arbeitsgemeinschaft für literaturinteressierte Arbeiter sein konnte, wenn der politisch-ideologischen Auseinandersetzung großer Wert beigemessen wird. Denn der schreibende Arbeiter, der zumeist Gegenwartsstoffe zu gestalten versucht, kann ohne parteilichen Standpunkt keine gültige Zeile schreiben. Das den Zirkelmitgliedern deutlich, begreiflich zu machen, darin sah ich und sehe ich noch heute meine eigentliche Aufgabe.«
Parteilinientreue der Schreibenden Arbeiter scheint damit wesentlich gewesen zu sein. Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Denn Wolfgang Schütz selber war im Dezember 1956 infolge der Ereignisse in Ungarn mit den Worten »Parteidisziplin und unbedingte Durchführung aller Parteibeschlüsse sind mir […] zu schwerer Gewissensnot geworden.« aus der Partei ausgetreten, weil er sich »auf Grund langer innerer, immer wieder unterdrückter Zweifel nicht mehr in der Lage sah, mit Überzeugung und fester Entschlossenheit für sie einzutreten.« Und auch die Mitglieder waren nicht alle linientreue Parteimitglieder. Baldur Haase beispielweise war 1959 inhaftiert gewesen, weil er George Orwells »1984« gelesen und darüber auch gesprochen hatte. Jürgen Köditz wurde ab Anfang der 1970er Jahre von der Stasi beobachtet. – Und blickt man auf die im Zirkel entstandenen Texte, verlangt die Frage nach dem Verhältnis zur Partei und zum Staat erst recht eine differenziertere Betrachtung.
Im Dezember 1960 fand in der Ernst-Abbe-Bibliothek in Jena eine erste Lesung des Zirkels statt. Während sich in der DDR sehr viele junge Zirkel Schreibender Arbeiter Anfang der 1960er Jahre als äußerst produktiv – aber zur Enttäuschung einiger Kulturpolitiker als nicht besonders qualitativ hochwertig – erwiesen und eine regelrechte »Anthologien-Schwemme« beklagt wurde, blieb es um den Jenaer Zirkel zunächst still. Mitte der 1960er Jahre wandte sich die Kulturpolitik der DDR wieder vom ›Bitterfelder Weg‹ ab, die Bewegung der Schreibenden Arbeiter ging damit allgemein wieder zurück. Der Jenaer Zirkel trat dagegen erst ab dieser Zeit in seine produktivste Phase ein.
1966 wurde das Zirkelmitglied Horst Fiedler, gelernter Schriftsetzer und Buchdrucker, Redakteur der Betriebszeitung des VEB Carl Zeiss Der Scheinwerfer, was dem Zirkel die Möglichkeit eröffnete, regelmäßiger zu veröffentlichen und innerhalb des eigenen Trägerbetriebes stärker wahrgenommen zu werden. 1967 schloss der Zirkel außerdem einen Patenschaftsvertrag mit der Jugendbrigade Heinrich Rau, ebenfalls im VEB Carl Zeiss Jena. Die Schreibenden Arbeiter sollten einerseits für die kulturelle Betätigung und Bildung der Brigade sorgen, auf der anderen Seite lieferte die Brigade Themen und Stoffe für literarische Arbeiten. In der Folge fanden gemeinsame Veranstaltungen wie etwa Buchlesungen und Brigadeabende statt, außerdem half der Zirkel bei der Gestaltung des Brigadetagebuchs. Höhepunkt der Zusammenarbeit war die Entwicklung des Projektes der »Brigadegeschichten«. Entstehen sollte eine Sammlung von anekdotischen Geschichten aus dem Leben und Arbeiten der Brigade, die exemplarisch das »Wachsen eines sozialistischen Kollektivs« abbilden sollten. Einige »Brigadegeschichten« wurden veröffentlicht, das angestrebte Bändchen, das zum 20. Jahrestag der DDR 1969 fertig werden sollte, hat es dagegen nicht bis zur Drucklegung geschafft.
Allerdings nahm der Zirkel 1969 das erste Mal an den Arbeiterfestspielen teil. Mit dem literarisch-musikalischen Programm »20 Jahr‹ steht unser Haus« trat er gemeinsam mit der »Lautengilde« des VEB Carl Zeiss, Volkskunstgruppen der Studiobühne der Universität Jena und Berufskünstlern des Theaters Gera anlässlich der 11. Spiele in Karl-Marx-Stadt in den Festspielorten Oelsnitz und Bad Elster auf. In den frühen 1970er Jahren unternahm der Zirkel mehrere Versuche, an den Arbeiterfestspielen teilzunehmen, was aber drei Jahre hintereinander misslang. Erst 1976 konnte der Zirkel mit »Regenbögen hissen wir auf unserer Erde«, einem Programm mit Vertonungen des Geraer Komponisten Achim Müller-Weinberg, in Dresden wieder an den 16. Arbeiterfestspielen teilnehmen.
1969 erhielt der Zirkel erstmals offizielle Anerkennung innerhalb der Volkskunstbewegung und der Bewegung Schreibender Arbeiter. Bei einem zentralen Leistungsvergleich schnitt er als einer der acht besten Zirkel der DDR ab, erhielt die Auszeichnung als »Bester (Schrittmacher-)Zirkel des Bezirkes Gera« und wurde mit dem Titel »Hervorragendes Volkskunstkollektiv« geehrt, mit dem das Kulturministerium die besten Kollektive des Volkskunstschaffen auszeichnete und den der Zeiss-Zirkel fortan alle drei Jahre erneut verliehen bekam. Rund zehn Jahre später, 1980, errang er sogar den Titel »Ausgezeichnetes Volkskunstkollektiv«, der noch eine Stufe höher stand. In Darstellungen des Zirkels in der Öffentlichkeit wurden diese Titel stets hervorgehoben, sie waren die Messlatte der Bedeutung innerhalb der Bewegung Schreibender Arbeiter bzw. des gesamten Volkskunstschaffens. Besonders prestigeträchtig war zudem 1973 die Verleihung des FDGB-Kunstpreises.
Ebenfalls 1969 konnten zwei Zirkelmitglieder, Jürgen Köditz und Baldur Haase, an das Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig zum neu eingerichteten Fernstudium für Schreibende Arbeiter delegiert werden. Jürgen Köditz, Schlosser, galt als besonderes literarisches Talent und damit als potentielles Aushängeschild für die Schreibenden Arbeiter. Er sollte durch das Fernstudium eine weitere literarische Förderung erhalten und tatsächlich konnte er im Folgejahr als einer von vier Studenten aus dem Fernstudium ins Direktstudium wechseln. Baldur Haase, Schriftsetzer und Buchdrucker, schrieb selber weniger und war mehr aus theoretischem Interesse im Zirkel, wie er mir in einem persönlichen Gespräch mitgeteilt hat. Er wurde in Leipzig zum Kulturfunktionär ausgebildet, was ein zweites wesentliches Ziel in der Konzeption des Fernstudiums darstellte. Wenig später wurde er Sekretär der Bezirksarbeitsgemeinschaft Schreibender Arbeiter Gera. Auch andere einzelne Mitglieder des Zirkels nahmen an kulturpolitischen Förderangeboten der DDR teil. So fuhr etwa Johanna Ehle, Verkäuferin, gemeinsam mit Jürgen Köditz 1969 zum Lehrgang des Schriftstellerverbandes. Hartmut Pache, Werkzeugmacher und später Außenhandelskaufmann des VEB Carl Zeiss Jena, wurde 1972 gemeinsam mit Jürgen Fuchs und Bettina Otto, einer Schülerin, die später auch im Zirkel Schreibender Arbeiter war, als Jenaer Vertreter (von insgesamt fünf aus dem Bezirk Gera) zum Poetenseminar nach Schwerin delegiert. Werner Baumgarten, Hauptmann der Volkspolizei, später Zivilangestellter im Ministerium des Inneren und außerdem Parteisekretär des Zirkels, konnte 1971 mit einer Prosaarbeit in einem Preisausschreiben eine Reise nach Leningrad gewinnen.
1974 folgte die erste große eigene Veröffentlichung des Zirkels, die Anthologie »Durch die Fenster hat der Tag gelacht«. Zwölf Schreibende sind dort mit Texten, überwiegend Gedichten, aber auch einigen Erzählungen, vertreten. 1981 konnte dann die zweite Anthologie unter dem Titel »Die Sonne läßt die Träume reifen« erscheinen, die seit 1977 geplant wurde und eigentlich schon 1979 fertig sein sollte. Die Verzögerungen scheinen aus den in der DDR recht üblichen vorwiegend bürokratischen Problemen in der Drucklegung zu resultieren. Die dritte und letzte Anthologie »Nicht nur sieben Wunder hat mein Jena« wurde 1986 anlässlich des 750. Jubiläums der Stadt Jena veröffentlicht.
Seit dem Schuljahr 1972/73 übernahm der Zirkelleiter Dr. Wolfgang Schütz auch die Leitung des neu gegründeten Zirkels Schreibender Schüler an der EOS Johannes R. Becher in Jena, wodurch auch vermehrt jüngere Mitglieder bei den Schreibenden Arbeitern ankamen. Der Anteil von Studierenden im Zirkel erhöhte sich in den folgenden Jahren, was auch daran lag, dass die Kooperation mit der Friedrich-Schiller-Universität Jena, die durch Dr. Wolfgang Schütz in Personalunion bereits von Beginn an gegeben war, intensiviert wurde. 1975 wurde ein Patenschaftsvertrag mit der Seminargruppe Germ. Dipl. II. Studienjahr abgeschlossen, Studierende übernahmen einzelne Fachvorträge zur Bildung der Schreibenden Arbeiter und teilweise auch die Leitung ganzer Sitzungen. Außerdem war es Studierenden der Universität möglich, ihr Kulturpraktikum beim Zirkel zu absolvieren. 1987 gab Wolfgang Schütz schließlich die Zirkelleitung ab, neuer Leiter wurde Lutz Mühlfriedel, wissenschaftlicher Assistent und seit 1981 Mitglied des Zirkels. Der Zirkel begann 1987 unter dem Arbeitstitel »Bilder und Texte« in Kooperation mit dem Fotoklub Jena 78 und dem Textilzirkel I des VEB Carl Zeiss Jena die Arbeit an einer vierten Anthologie. Im Arbeitsplan des Jahres 1989 ist außerdem das Vorhaben vermerkt, den Titel »Hervorragendes Volkskunstkollektiv« 1990 erneut zu verteidigen und sich um den Titel »Kollektiv der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft« (als das der Zirkel erstmals 1972 ausgezeichnet worden war) zu bewerben. Dazu kam es nicht mehr.
1990 löste sich der Zirkel auf, das dem VEB Carl Zeiss Jena untergeordnete Kulturhaus Volkshaus Jena konnte nicht mehr als Träger fungieren und die staatliche finanzielle Unterstützung fiel weg. Ebenso weggebrochen war aber auch die staatliche Lenkung. 1990 gründete sich der Zirkel unter dem Namen »Jenaer Autorengruppe« unmittelbar neu, nun tatsächlich komplett in Eigeninitiative. Einige Mitglieder des alten Zirkels Schreibender Arbeiter blieben, einige neue Schreiber kamen aber auch hinzu, die zuvor nicht das Gefühl gehabt hatten, in einem solchen Zirkel unter staatlicher Aufsicht ein literarisches Zuhause finden zu können. Seit 1996 veröffentlichte die Autorengruppe drei Anthologien: »textur« (1996), »textur.zwei« (2000) und »Blaues lugt durch Wolkenberge« (2014). Sie trifft sich bis heute regelmäßig, um über eigene Texte zu sprechen und sich literarisch auszutauschen.
Vielleicht sind Sie ja nun inspiriert, die Straßenverkehrsordnung in Verse zu fassen – von dem Erlernen von Klavier, Orgel oder Blockflöte würde ich zunächst abraten (es sei denn, Sie wohnen in einem abgeschiedenen Einzelhaus oder hinter dicken, schalldichten Wänden)…
Veröffentlicht am: 08. April 2020, 10:00 Uhr