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Dr. Julia Landau & Franz Waurig, »Wie gedenken? - Erinnerungskulturelle Praxis vor Ort«

Gedenktafel-Ensemble am Rathaus von Reichenbach/Vogtland, November 2019. Foto: Gedenkstätte Buchenwald
Gedenktafel-Ensemble am Rathaus von Reichenbach/Vogtland, November 2019. Foto: Gedenkstätte Buchenwald

Das Corona-Virus sorgt dafür, dass das öffentliche Leben nahezu zum Erliegen gekommen ist. Auch unser Forschungsverbund ist davon betroffen. Veranstaltungen und Treffen mussten abgesagt oder verschoben werden, Bibliotheken, Universitäten und Büros sind geschlossen. Dennoch geht die Arbeit, wenn auch eingeschränkt, weiter. In diesen Tagen möchten wir die Gelegenheit nutzen, Ihnen einen tieferen Einblick in die Arbeit unserer Teilprojekte zu geben.

Es folgt der dritte Beitrag, diesmal von Dr. Julia Landau und Franz Waurig aus dem Teilprojekt »Gedenken ohne Wissen? Die sowjetischen Speziallager in der postsozialistischen Erinnerungskultur«. In ihrem Artikel zeichnen sie am Beispiel der sächsischen Stadt Reichenbach im Vogtland nach, wie umstritten Geschichte sein kann und wie sich das in der Erinnerungskultur ausdrückt.

Dr. Julia Landau & Franz Waurig: »Wie gedenken? – Erinnerungskulturelle Praxis vor Ort«

Reichenbach im Vogtland. Noch vor einigen Monaten nicht mehr als ein Ortsname, zu dem ich nur ein vages Wissen hatte. Bis ich durch Zufall einen kurzen Zeitungsausschnitt fand. In ihm war die Rede von Diskussionen um eine Gedenktafel am Reichenbacher Rathaus, die den ehemaligen Oberbürgermeister Otto Schreiber betraf, der 1946 im Speziallager Mühlberg an der Elbe starb. Mein Forschungsinteresse war geweckt und die Recherche konnte beginnen.
Seit knapp einem Jahr beschäftige ich mich im Rahmen eines BMBF-Teilprojektes mit der Erinnerung an sowjetische Verhaftungen und Speziallager. Vor 30 Jahren wurde zum ersten Mal in den freien DDR-Medien über die sowjetischen Internierungslager berichtet. Initiativgruppen gründeten sich, sammelten Erinnerungen. Die Gedenkstätte Buchenwald markierte die Gräberfelder und legte sie frei. 30 Jahre später ist die Zeit reif, auch die Erinnerung genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn wie die Lager selbst ist sie nun bereits zu einem guten Stück historisiert, ein Teil der Geschichte geworden. Die Auseinandersetzungen um vermeintliche Deutungshoheiten und Opferdiskurse – besonders in den 1990er Jahren zwischen Häftlingsverbänden und der Wissenschaft geführt – prägen bis heute die Darstellung sowjetischer Verhaftungen und der Speziallager, finden sich auch in der Gestaltung und den Texten bzw. Inschriften der seit dieser Zeit entstandenen Denkmäler und Ausstellungen zum Thema.

Zu meinem Projekt gehört die Recherche und Aufnahme von relevanten Denkmälern vor Ort, also nun auch in Reichenbach. Der Weg vom Bahnhof in die Innenstadt: Die ehemalige Villa des NS-Oberbürgermeisters an der Bahnhofstraße. Ein vormaliges Kriegerdenkmal, nach 1945 den »Opfern des Faschismus« und noch später denen jeglicher Gewaltherrschaft gewidmet. Der unweit gelegene Marktplatz ist übersichtlich, von allen Seiten durch niedrige Häuserfronten eingegrenzt. 1933 errichteten die Nationalsozialisten im sozialdemokratischen Treffpunkt »Volkshaus« (Markt 5) ein erstes Konzentrationslager – in unmittelbarer Nähe zum Rathaus: Die NS-Frauenschaft stiftete angeblich ein eigens gefertigtes »Abdämpfkissen«, mit dem die Schreie der Gefolterten unterdrückt werden sollten. Ehemals jüdische Geschäfte und Wohnhäuser befinden sich in der Nachbarschaft. Am Markt 20 lebte und arbeitete Johannes Frank, Spezialist für Textilmaschinen und Stoffe. Während des Novemberpogroms 1938 wurde er verhaftet, misshandelt und für einige Wochen in das KZ Buchenwald verschleppt. Nach seiner Freilassung und erneuten Verhaftung starb Johannes Frank 1943 in Auschwitz. An der Rückseite des Rathauses steht das ehemalige jüdische Kaufhaus Krell & Co. (Am Graben 2, heute Kinderkaufhaus). Nach dem Zwangsverkauf beging der Inhaber Arthur Bohm im Mai 1938 Selbstmord. »Stolpersteine« weisen seit einigen Jahren auf ihn, Johannes Frank und weitere jüdische Einwohner der Stadt hin. Das ebenfalls in Reichweite befindliche Stadtarchiv erinnert mit einer Gedenktafel an die Euthanasie- und Sterilisationsverbrechen der Nationalsozialisten.
Am Eingang des Rathauses steht ein recht unscheinbarer Aufsteller mit drei Gedenktafeln. Im April 2003 wurde die erste Tafel eingeweiht. Sie thematisiert die Verhaftung von etwa 120 Jugendlichen aus Reichenbach und Umland, die nach 1945 in sowjetischen Speziallagern interniert wurden. Tafeln ähnlichen Inhalts hängen auch in Altenburg, Apolda, Eisenach, Plauen und an vielen anderen Orten in den neuen Bundesländern. Zwei Gründe mögen dafür im Wesentlichen ausschlaggebend sein: Die nach Kriegsende verhafteten und internierten Jugendlichen hatten kurz vor oder nach der Friedlichen Revolution 1989/90 das Rentenalter erreicht. Sie konnten nun öffentlich über ihre Internierung sprechen und selbst daran erinnern. Zudem galt ihr Schicksal als unbestritten: Sie können aufgrund ihres damals jungen Alters als unschuldig gelten.

Zum 65. Jahrestag der Novemberpogrome entstand im November 2003 die zweite Tafel. Mit stilisiertem Davidstern informiert sie in knappen Worten darüber, dass die jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner von Reichenbach während des Nationalsozialismus ausgegrenzt, verfolgt und umgebracht wurden. Dass Erinnern auch sprachlich keine leichte Aufgabe ist, zeigt der Tafeltext: In ihm wird von den jüdischen »Mitbürgern« (nicht Bürgern) gesprochen.
Die zuletzt gesetzte dritte Tafel auf dem Aufsteller, die an die Kapitulation der Stadt erinnert, ist bis heute umstritten. Worum geht es?
Im April 1945 besetzte US-amerikanisches Militär die Stadt Reichenbach, nachdem einige Parlamentäre nach Abwägung der Situation den Ort friedlich übergaben. Zu ihnen gehörten der NS-Oberbürgermeister Otto Schreiber, seit 1932/35 im Amt, und der Polizist Walter Schreiner. Beide wurden im Sommer 1945 verhaftet und interniert. Otto Schreiber verstarb 1946 im Speziallager Mühlberg, Walter Schreiner wurde 1950 aus dem Speziallager Buchenwald entlassen und schrieb seine Erinnerungen auf.

Die Darstellung dieses Teils der Stadtgeschichte gestaltete sich in den Folgejahren schwierig: Befreiung durch US-amerikanische Truppen und ein beteiligter NS-Oberbürgermeister, der in sowjetischer Internierung verstarb. Die DDR-Geschichtsschreibung machte aus der Kapitulation von oben die Geschichte eines mutigen (weil ebenfalls anwesenden) Feuerwehrmannes, der die Reichenbacher Stadtoberen zum Aufgeben antrieb und später als Kreisbrandschutzmeister hohe Ehrungen erfuhr. Eine Erzählung, die nach 1989/90 zunehmend Risse bekam. Von verschiedenen Seiten wurden Forderungen laut, den ehemaligen Oberbürgermeister öffentlich zu ehren: Etwa seitens der Familie Otto Schreibers und von anderen Betroffenen, die als Jugendliche ebenfalls in Speziallagern interniert waren.

2010 kam das Vorhaben erstmals in den Stadtrat. Durch die Regionalpresse angeregt, entspann sich eine breite Diskussion um das Pro und Contra einer Ehrung für den ehemaligen Oberbürgermeister. Nachdem sich der Stadtrat einige Zeit später gegen eine Nennung Otto Schreibers oder ein Denkmal für seine Person aussprach, wurde im Dezember 2010 die dritte Gedenktafel am Rathaus eingeweiht – mit einem Kompromiss: Nicht an Otto Schreiber, wohl aber an die diffus erscheinende Gruppe »mutiger Bürger« der Stadt Reichenbach wird erinnert, die die Stadt am 17. April 1945 an US-amerikanisches Militär übergab.

Die Reihenfolge der Gedenktafeln am Aufsteller änderte sich mit jedem neu hinzugekommenen Gedenkzeichen. Sie entspricht nun der zeitlichen Abfolge der Ereignisse: Am oberen Ende hängt die Tafel für die jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner Reichenbachs, in der Mitte jene für die Kapitulation am 17. April 1945 und darunter die ursprünglich zuerst gesetzte Platte für die jugendlichen Speziallager-Internierten.

Im Sommer 2019 landete die Causa Otto Schreiber erneut im Reichenbacher Rathaus. Rolf Schneider, 1945 als Jugendlicher verhaftet und gemeinsam mit Schreiber im Speziallager Mühlberg interniert, plädierte in einem Brief für eine Änderung der Gedenktafel und die nachträgliche Nennung des Oberbürgermeisters – einschließlich der Thematisierung seiner Rolle im Nationalsozialismus. Bevor das Vorhaben im Februar 2020 durch den Stadtrat besprochen werden konnte, kam es zu vehementen Entgegnungen in den sozialen Netzwerken und zu einer von der Linkspartei initiierten Mahnwache vor dem Rathaus. Das Thema wurde von der Tagesordnung genommen. Vom Tisch ist es damit lange noch nicht.

Diskussionen dieser Art finden nicht nur im Vogtland statt. Auch an anderen Orten Deutschlands gibt es Kontroversen um die Erinnerung an Bürgermeister, die in das NS-System verstrickt waren und zu Kriegsende auf lokaler Ebene kapitulierten. In allen Besatzungszonen wurden NS-Bürgermeister entlassen, viele von ihnen von der jeweiligen Besatzungsmacht interniert. Auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone verstarb ein Drittel der Internierten in Haft, darunter zahlreiche ehemalige Bürgermeister. In der öffentlichen Diskussion tritt nicht selten ihr Status als »Opfer des Stalinismus« in den Vordergrund, während die Unterstützung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ins Hintertreffen gerät.

Unser Projekt »Gedenken ohne Wissen? Die sowjetischen Speziallager in der postsozialistischen Erinnerungskultur« möchte einen Beitrag zur Versachlichung der oben beschriebenen Diskurse leisten. Gemeinsam mit Interessierten vor Ort wollen wir Workshops zur Erforschung der lokalen NS- und Nachkriegsgeschichte durchführen, die Erinnerung und das Gedenken an sowjetische Verhaftungen nach 1945 mit mehr Wissen bereichern.
Auf der Grundlage des Materials lokaler Historiker, aus dem Stadtarchiv Reichenbach und der vogtländischen Lokalpresse erstellte das Projektteam Materialien, die Hintergrundwissen zur Regional- und Verfolgungsgeschichte während des Nationalsozialismus, zu Biografien von Speziallager-Insassen aus der Region und zur lokalen Erinnerungskultur liefern.
Ob und wie uns das Vorhaben des Wissenstransfers und -austauschs gelingt, werden wir in den nächsten Monaten und Jahren sehen.

P.S.: Lesetipps und die Unterstützung lokaler Buchhandlungen tun gerade in der aktuellen Situation Not: So sei für die häusliche Quarantäne das aktuell erschienene Buch »Die Villa« von Hans Joachim Schädlich empfohlen. Es geht darin um nichts weniger als die Stadt Reichenbach in den Jahren vor, während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg.

Literaturhinweise:

Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013 (= Becksche Reihe 6098). [besonders Kapitel 6: Opferkonkurrenzen]

Baganz, Carina: Reichenbach. In: Benz, Wolfgang/Distel, Barbara: Der Ort des Terrors. Bd. II: Frühe Lager. Emslandlager. München 2005. S. 191 – 193.

Brenner, Hans (Hrsg., u. a.): NS-Terror und Verfolgung in Sachsen. Dresden 2018.

Fehlhauer, Gero: Gesichter einer Stadt. Reichenbach i. V. 1933-1945. 1. Aufl. Reichenbach/Vogtland 2004.

Meinel, Otto: Durchgangslager Reichenbach. In: O. N.: Konzentrationslager. Ein Appell an das Gewissen der Welt. Karlsbad [Karlovy Vary] 1934. S. 164 – 169.

Red, Alf: Bomber über Reichenbach. In: Wochenpost, 06. März 1965, 12. Jg., Nr. 10, S. 15.

Veröffentlicht am: 09. April 2020, 10:00 Uhr